Die Messlatte erklärt den Unterschied!

Zur Diskrepanz zwischen der allgemeinen Erfolgsquote des europäischen Abiturs und der Erfolgsquote der „Première classique“ und „générale“

Wer die Messlatte niedrig hängt, wird Folgendes feststellen: Mehr Kandidaten können die gestellten Anforderungen erfüllen. So erklärt sich zum größten Teil auch die Diskrepanz in puncto allgemeiner Erfolgsquote beim „Baccalauréat européen“ und bei der „Première classique“ und „générale“. Während nur 66% der Schüler im „Enseignement général“ sowie 83% im „Enseignement classique“ auf Anhieb ihr Abitur schafften, so schafften dieses Jahr mal wieder 98,86% der Schüler das „Baccalauréat“ an den hiesigen öffentlichen europäischen Schulen.

Eine Erfolgsquote von 98% bis 99% ist quasi europaweiter Standard beim europäischen Abitur. Das liegt zum größten Teil an den Bewertungskriterien, die im Vergleich zum Luxemburger Schulsystem deutlich laxer sind:

  • Erstens ermöglicht das europäische System es den Abiturienten, ihr Abitur selbst im Fall von mehreren ungenügenden Examensnoten zu bestehen, insofern der Gesamtnotenschnitt genügend ist. Im Luxemburger System muss im Prinzip jedes Examensfach bestanden werden, notfalls per Nachexamina oder unter bestimmten Bedingungen durch Kompensation. Hauptfächer können im Luxemburger System jedoch nicht kompensiert werden und für die Kompensation eines Nebenfachs muss ein Notenschnitt von mindestens 36 bis 37 Punkten erreicht worden sein, für die Kompensation von zwei Nebenfächern ein Notenschnitt von 38 Punkten oder mehr. Bei drei ungenügenden Noten gilt das Abitur als nicht bestanden. Die Bewertungskriterien sind im Luxemburger System also deutlich strenger.
  • Zweitens fällt die Jahresnote im europäischen System mit 50% weitaus stärker ins Gewicht als im Luxemburger System, in welchem die Jahresnote nur zu einem Drittel in die Gesamtnote einfließt.
  • Drittens wird bei der Jahresnote im europäischen System auch die allgemeine Haltung des Schülers während des Abschlussjahres bewertet (z.B. ob er motiviert war, am Unterricht aktiv teilgenommen hat usw.), während im Luxemburger System nur die schriftlichen und in einigen Fächern mündliche Prüfungsnoten einfließen, die – im Fall der mündlichen Prüfungen – aber nur zu 25% in die jeweilige Semesternote einfließen. Das Anpassen der Semesternote um jeweils 4 Punkte nach unten oder oben ist untersagt.
  • Viertens fallen im Luxemburger System je nach Sektion verschiedene Hauptfächer via Koeffizient unterschiedlich stark ins Gewicht beim Berechnen der Jahresnote. Im europäischen System können die Schüler ihre Examensfächer viel freier wählen, diese sind zudem alle gleich gewichtet.

Die strengeren Bewertungskriterien des Luxemburger Abiturs garantieren aber ein gewisses Kompetenzniveau: Eine ungenügende Jahresnote in Mathematik kann dort nicht mit einer guten Sportnote ausgeglichen werden. Sich an der reinen Erfolgsquote zu orientieren, bringt folglich wenig, um über die Kompetenzen dieser Abiturienten urteilen zu können. Wenn man sich das europaweite Ranking der „École internationale de Differdange“ (EIDE) und der „International School Lenster Lycée“ (LLIS) anschaut, so belegten beide Schulen in den vergangenen Jahren die letzten drei Plätze. Die EIDE belegte sogar im Jahr 2023 europaweit den letzten Platz. Das Examen ist folglich zwar bestanden, aber die Leistungen der Abiturienten sind im Schnitt sehr niedrig, die Kompetenzen dementsprechend auch. Wie und ob Luxemburger Absolventen des europäischen „Baccalauréats“ ihr Studium schaffen, ist unklar: Noch fehlen die Zahlen hierzu.

Für das SEW/OGBL besteht die Aufgabe der weiterführenden Sekundarschule ganz klar darin, die Schüler auf ein späteres Studium vorzubereiten. Diplome verschenken mag für zufriedene Eltern und Schüler sorgen, ist langfristig aber weder im Sinne der betroffenen Schüler noch im Sinne der Gesellschaft.

Das SEW/OGBL fordert daher eine transparente Evaluierung des europäischen Abiturs und stellt seine Vergleichbarkeit mit dem nationalen Abitur ganz klar und deutlich in Frage.

Zu einer transparenten Evaluierung der öffentlichen Europaschulen und des Luxemburger Schulsystems müssen aber auch die Sprachkompetenzen zählen. Zu diesem Zweck würden sich die „épreuves standarisées“ anbieten, wobei auch nach „5ème“ noch weiter getestet werden sollte, um zu evaluieren, wie es wirklich um die Mathematik- und Sprachkenntnisse der Schüler des ESC, des ESG, der Berufsausbildung – separat aufgeteilt in „DT“, „DAP“ und „CCP“ – und der öffentlichen Europaschulen steht.

Fest steht: Auch das luxemburgische Schulsystem weist enorme Lücken auf. Ob es aber zu mehr schulischer Fairness kommen wird, wenn vornehmlich in den Bau und Ausbau von Europaschulen investiert wird, ist fraglich. Mit einer solchen Bildung „à la carte“, beruhend auf einer Internationalisierung des schulischen Angebots sowie einer Intensivierung der privatwirtschaftlich inspirierten „Schulautonomie“, wird Schülern und Eltern vorgegaukelt, dass sich ein individueller Bildungsweg zurechtschneidern lässt. Angesichts der sich vertiefenden sozialen Widersprüche und einer heterogener, individualistischer sowie unsolidarischer werdenden Gesellschaft, die das „vivre ensemble“ im multikulturellen Luxemburg gefährdet, müsste die Regierung mit einer Stärkung und adäquaten Reformierung der öffentlichen Schule reagieren.

Mitgeteilt vom OGBL-Syndikat Erziehung und Wissenschaft (SEW),
am 14. Juli 2025