Der Arbeitskräftemangel in der Industrie darf nicht dazu benutzt werden, die Arbeitsbedingungen und die Entlohnung der Arbeitnehmer zu verschlechtern

Während überall auf der Welt die Arbeitszeitverkürzung zu einer Notwendigkeit geworden ist, haben die Arbeitgebervertreter der Luxemburger Industrie (FEDIL) angekündigt, dass sie unter anderem genau das Gegenteil fordern, nämlich eine Verlängerung der Arbeitszeit – eine Maßnahme, die von der FEDIL als Hauptlösung für das Problem des Arbeitskräftemangels in der Industrie angepriesen wird. Die Industriegewerkschaften des OGBL verurteilen diese faule Ausrede, die darin besteht, die Schuld den Arbeitnehmern oder der öffentlichen Hand zuzuschieben und dabei die eigenen Versäumnisse völlig auszublenden.

Wer die internationalen Nachrichten verfolgt, erfährt jeden Tag von einem anderen Land, wie sich die Arbeitszeitverkürzung mit Lohnfortzahlung in diesem Land ausgewirkt hat. Überall wird dasselbe festgestellt: eine Verbesserung des persönlichen Gleichgewichts der Arbeitnehmer und eine Beibehaltung oder sogar Steigerung der Produktivität der Unternehmen. Der OGBL sieht sich in seiner Haltung bestätigt: Zufriedene Arbeitnehmer, die ihr Privat- und Berufsleben besser in Einklang bringen können, sind auch für die Unternehmen von Vorteil, da sie dadurch produktiver und somit rentabler werden.

Den Beschäftigten in der Industrie geht es nicht schlecht, sondern sehr schlecht!
In Luxemburg sind einige FEDIL-Mitglieder nicht bereit, sich selbst in Frage zu stellen und nach den wahren Gründen für die Schwierigkeiten zu suchen, die einige Unternehmen haben, Arbeitnehmer einzustellen oder zu halten. Wer ist schuld? Für die FEDIL sind es die Arbeitnehmer, die nicht genug arbeiten, die Kranken, die sich verstellen, die Gesetze und Kollektivverträge, die die Arbeitnehmer schützen und sie daran hindern, nach ihrem Gutdünken zu handeln.

Leben, um zu arbeiten, oder arbeiten, um zu leben?
Die “effektive” Arbeitszeit erhöhen zu wollen, ist an sich schon eine Beleidigung! Für den OGBL gibt es nur eine Arbeitszeit, nämlich die, während der der Arbeitnehmer dem Arbeitgeber zur Verfügung steht und nicht frei seinen persönlichen Beschäftigungen nachgehen kann. Die Einführung des Begriffs “effektiv”, um Zweifel an diesem Begriff zu wecken, dient einzig und allein dazu, die Forderung der Arbeitgeber zu verschleiern, die Arbeitszeit über die geltenden gesetzlichen Bestimmungen hinaus zu verlängern oder, schlimmer noch, die im Rahmen von Kollektivverträgen ausgehandelten Arbeitszeitverkürzungen in Frage zu stellen. Dazu gehören extralegale Urlaube, Arbeitszeitverkürzungen (ja, die gibt es bereits) oder auch bezahlte Pausen. Weniger Wohlmeinende könnten darin sogar den Wunsch der FEDIL nach Abschaffung der Pinkel-, Kaffee-, Umkleide- oder Duschpausen sehen.

Diese Forderungen erscheinen umso unangemessener, als die FEDIL zu vergessen scheint, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der Industrie im Dauerbetrieb und/oder im Schichtbetrieb mit atypischen Arbeitszeiten oft in Verbindung mit flexibler Arbeitsorganisation tätig sind. Die FEDIL fordert mit grenzenloser Gier mehr Flexibilität ohne jegliche Kontrolle und vergisst dabei zu erwähnen, dass viele Betriebe in der Industrie dank der Kollektivverträge bereits über eine Flexibilität verfügen, die die Rechte der Arbeitnehmer berücksichtigt, da sie auf dem Verhandlungsweg zustande gekommen ist.

Es stellt sich die Frage, ob die Realität, die die Führungskräfte der Unternehmen erleben, mit der Realität der Betriebe und der Arbeitnehmer vor Ort übereinstimmt. Oder handelt es sich lediglich um einen weiteren Versuch, Überstunden neu zu definieren, um nicht mehr an die zulässigen Grenzen gebunden zu sein und vor allem, um zu vermeiden, dass diese Überstunden angemessen bezahlt oder ausgeglichen werden?

Arbeit macht krank
Die Jagd auf Kranke scheint eine der beliebtesten Freizeitbeschäftigungen der Arbeitgeber zu sein, wenn man die wiederholten Forderungen der Verbände nach mehr Mitteln zur Kontrolle der Atteste und nach Lohnkürzungen im Krankheitsfall betrachtet. Der OGBL verteidigt die Bestimmungen zum Schutz kranker Beschäftigter und stellt die Frage nach den Ursachen der Erkrankungen. Sind die Krankheitsfälle nicht auf den Personalmangel in vielen Betrieben nach der x-ten Reorganisation oder Umstrukturierung zurückzuführen? Oder liegt es an der zunehmenden Arbeitsintensität und der Forderung der Betriebe, immer mehr mit immer weniger Mitteln zu erreichen? Die FEDIL vergisst ein wenig zu schnell, dass Arbeit auch krank machen kann, sowohl physisch als auch psychisch, vor allem wenn sie mit einem toxischen Management und nicht eingehaltenen Arbeitsplänen einhergeht.

Der Mangel an Arbeitskräften geht einher mit mangelnder Attraktivität
Viele Betriebe sind der Meinung, dass der Arbeitskräftemangel darauf zurückzuführen ist, dass die Menschen “nicht mehr arbeiten wollen”. Ein Blick auf die Arbeitslosenzahlen in Luxemburg und über die Grenzen hinaus genügt jedoch, um diese Behauptung zu widerlegen. Und es ist auch nicht die Regierung, die mit der einen oder anderen Maßnahme dafür sorgen wird, dass sich die Industrie von den anderen Sektoren des Landes abhebt. Die Industrieunternehmen müssen selbst Verantwortung übernehmen und sich die richtigen Fragen stellen: Warum haben sie Schwierigkeiten, Mitarbeiter zu gewinnen und zu halten? Sind die Berufe in der Industrie noch attraktiv?

Für den OGBL sind die Antworten und Lösungen relativ einfach: bessere Arbeits- und Entlohnungsbedingungen sowie echte berufliche Perspektiven müssen angeboten werden. Und das geht nur über Kollektivverträge. Die Unternehmen werden dies niemals freiwillig tun. Die EU-Institutionen haben diese Sichtweise bestätigt, indem sie die Mitgliedstaaten – und damit ist auch Luxemburg gemeint – aufgefordert haben, den Geltungsbereich von Kollektivverträgen auszuweiten. Auf der anderen Seite des Atlantiks macht die Biden-Administration den Erhalt und die Schaffung von “well-paid union jobs” – gut bezahlte und vor allem gewerkschaftlich verhandelte Arbeitsplätze – zu einem Schlüsselelement ihres Konjunkturprogramms für die USA.

Der OGBL ist überzeugt, dass die Industrie nicht attraktiver wird und “Talente” anzieht, indem man das Arbeitsrecht und die Kollektivverträge zerschlägt. Ganz im Gegenteil!

Mitgeteilt von den Industriesyndikaten des OGBL,
den 17. März 2023