Das Wort des Präsidenten

Mehr Demokratie statt weniger Demokratie – Soziale Gerechtigkeit statt soziale Ungleichheit

André Roeltgen, Président de l‘OGBL
André Roeltgen, Präsident des OGBL

Der Nährboden für terroristische Gewalt muss ausgetrocknet werden. Der staatliche Sicherheitsapparat kann und muss Anschläge vereiteln oder erschweren. Er ist aber für die Bekämpfung der Ursachen des Terrors ungeeignet. Die verlangt nach tiefgreifenderen politischen und gesellschaftlichen Antworten.

Jeder von uns bewegt die Frage, was Jugendliche, die in unseren Städten aufwachsen, dazu antreibt sich extrem reaktionär-autoritären Bewegungen anzuschließen und deren zutiefst menschenverachtenden Gesinnungen zu übernehmen. Gemeint sind nicht nur die kriminellen Attentäter von Paris und Brüssel, sondern ebenfalls die rechtsextremen Jugendlichen, die auf dem Brüsseler Börsenplatz die demokratische Solidarität und Trauer niedertrampeln oder in Deutschland Flüchtlingsheime anzünden.

Es gibt keine einfachen Antworten. Aber es gibt Zusammenhänge. Demokratie muss gelebt werden können und Demokratie begrenzt sich nicht auf das politische Wahlrecht und auf die freie Meinungsäußerung. Demokratie ist mehr. Chancengleichheit und die Möglichkeit der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft, an ihrer Entwicklung und an ihren Resultaten sind die Voraussetzung für die nachhaltige Entfaltung einer stabilen demokratischen Gesellschaftsordnung.

In Europa häufen sich diesbezüglich seit längerem die Defizite. Nicht erst seit der Krise 2008/2009, aber seitdem verstärkt. Die sozialen Ungleichheiten haben zugenommen, die hohe Massenarbeitslosigkeit ist zum Dauerzustand geworden, ganze Bevölkerungsteile und –schichten sind von der sozialen Armut und Ausgrenzung betroffen oder leben in der Angst des sozialen Abstiegs. An vielen Orten Europas ist der Glaube an die Möglichkeit des sozialen Aufstiegs über eine gute Bildung und über einen guten Beruf abhandengekommen.

Selbstverständlich wird nicht jeder aufgrund der erlebten gesellschaftlichen Perspektivlosigkeit und sozialen Angst zum Terrorist oder zum Rechtsextremist. Sie sind aber die Quelle für den Verlust des Vertrauens und des Glaubens an die Fähigkeit der Gesellschaft, ihrer Institutionen und ihrer Entscheidungsträger, etwas an der bestehenden Situation zum Positiven zu wenden.

Diese chronische gesellschaftliche Frustration, die viele in Europa erleben, macht anfällig für die antidemokratischen, autoritären, irrationalen oder fanatisch-religiösen Ideologien, Heilslehren und Parteien, die sich seit längerem in Europa gefährlich ausbreiten und die Brutstätten für politische und kriminelle Gewalt sind.

Europa hat keine Zeit mehr zu verlieren. Mehr Demokratie statt weniger Demokratie und soziale Gerechtigkeit statt soziale Ungleichheit sind das Gebot der Stunde. Die Regierungen aller europäischen Länder, die Brüsseler Kommission, das Europäische Parlament und jede demokratische Partei sind dazu aufgefordert, die soziale Dimension zur obersten politischen Priorität ihres Handelns zu machen.

Die Austeritäts- und Sparpolitik, die vielen Ländern Europas die Spielräume für eine wirksame zukunftsorientierte Investitions- und Sozialpolitik nimmt, muss beendet werden. Die Politik der sogenannten „strukturellen Reformen“, die in erster Linie die Rechte der Arbeitnehmer, als auch ihre öffentlichen Sozialversicherungen und staatlichen Sozialleistungen sowie ihre nationalen Systeme der Lohnverhandlung angreift und eine massive Umverteilungspolitik in die falsche Richtung bewirkt, muss ebenfalls beendet werden.

Diese zentralen Forderungen des Europäischen Gewerkschaftsbundes wird der OGBL in seiner Stellungnahme zum 1. Mai, dem historischen Kampftag der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung für Demokratie und soziale Gerechtigkeit, aufgreifen. Die luxemburgische Regierung und alle demokratischen Parteien Luxemburgs müssen zu einem Europa beitragen, das über den Weg des sozialen und demokratischen Fortschritts den Feinden des demokratischen Zusammenlebens und unserer Grundwerte den Weg versperrt.